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27.6. - 29.6.2023

Ein geschichtlicher Museumsbesuch der persönliche Erinnerungen weckt

Zinnowitz nach Karlshagen

Die sehr starken Winde haben uns an die Mole des Hafens Zinnowitz im Achterwasser gefesselt. Die erste Nacht war schauderhaft, kamen doch die Winde von Osten direkt gegen uns und wir lagen ausserhalb des Hafens an eben der Ostflanke. Die Wellen, die der Wind über die ganze Grösse des Sees aufbauen konnte, schüttelten das Boot auf und nieder und schlugen es extrem an die Pier. Wir montierten alle Fender auf die eine Seite, damit das Schiff keinen Schaden nahm. Das Schiff glich einem Gummiboot. Für den nächsten Tag waren noch stärkere Winde mit Regen angesagt. Nur sollten diese Winde aus der West-Richtung auf uns eindreschen. Wie auf einen Knall wendete der Wind, und es begann fürchterlich zu schütten und die Dreissig-Kilometer-Winde mit Böen von sechzig wehten urplötzlich von Westen. So lagen wir im Windschatten der Pier und konnten die sehr kräftigen Winde gelassen über uns ergehen lassen. Die Parcosola ist im Wind nicht leicht zu steuern, darum nutzten wir aus Sicherheitsgründen eine zusätzliche Nacht den Hafen Zinnowitz. Marianne hatte dadurch Zeit und ist mit dem Rad zum Historisch-Technischen Museum nach Peenemünde gefahren. Irgendwie hat sie sich verschaut, denn anstelle der errechneten dreizehn Kilometer trat sie fünfundzwanzig Kilometer in die Pedalen. Zur Erlösung nahm sie dann die Usedomer Bäderbahn zurück.

Neben einem russischen U-Boot kann man dort vor allem die Entwicklungs- und Produktionsstätten der V 2-Raketen (das «V» steht zynischer für «Verteidigung») aus dem Zweiten Weltkrieg anschauen, mit denen Hitler zu Kriegsende das Ruder nochmals für sich herumreissen wollte, was aber nicht so recht gelang. Mit diesen Raketen wurden vor allem die Grossstädte der Alliierten beschossen: in London, Paris, Antwerpen und Lüttich starben Zehntausende von Zivilpersonen. Für diese Raketen benötigten sie Unmengen an Energie, verschlang doch jede der Tausenden eingesetzter Raketen etwa fünfundzwanzig Tonnen Treibstoff in Form von Alkohol und flüssigem Sauerstoff, der mit Kohlestrom und 30 Tonnen Kartoffeln hergestellt wurde. Der berühmteste Raketenbauer war Wernher von Braun, der nach dem Krieg von den Amis abgeworben und dann NASA-Chef wurde. Wernher stand schon sehr früh in Kontakt mit Albert Einstein. Irgendwie Physiker unter sich. An der Entwicklung dieses unrühmlichen Teils war auch der Vater von Jürgen Kleinwächter, eines alten Bekannten von mir, beteiligt.

Und das inspiriert mich zu einem abrupten Themen- und Zeitwechsel: Jürgen Kleinwächter durfte ich durch meinen Freund Prof. Armin Reller vor etwas über fünfunddreissig Jahren kennen lernen. Er studierte Physik und Astrophysik in Frankreich und befasste sich nachher sein ganzes Leben mit der Solarenergie. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal bei diesem Erfinder, Visionär, um nicht gar Solarpropheten zu sagen, zu Besuch war: ich kam in ein Zukunftsgelände. Überall standen gebaute Erfindungen rum. Alle, die dort arbeiteten, sahen aus wie die Comicfiguren in «Daniel Düsentrieb» von Walt Disney. Grosse Brillen, zerzauste Haare und als Kopf trugen sie einfach ein leuchtende Glühbirne. Persönlich führte Jürgen Armin und mich durch die Anlagen und erzählte Erfinder-Geschichten. Es stand ein grosser Parabolspiegel auf dem Areal, sagen wir mal zehn Meter Durchmesser. Schon etwas verrostet und ohne die Spiegelelemente. Damit versuchten sie, direkt mit Sonnenlicht einen Stirling-Motor zu betreiben. Die reflektierenden Elemente waren aber nicht genau ausgerichtet, und die Sonnenkraft hatte die Befestigung des Motors einfach wie ein Schneidbrenner durchgetrennt. Oder ein neuer Parabolspiegel, der mit einer reflektierenden Folie bespannt war und diese durch ein Vakuum in die richtige Hohlform brachte, um die Sonnenstrahlen zu konzentrieren. Jürgen Kleinwächter zeigte flüssiges Licht: in einem durchsichtigen Plastikschlauch transportierte er mit einer einfachen Pumpe eine Flüssigkeit, die mit Sonnebestrahlung zu leuchten begann, und - in einen dunklen Raum gepumpt - diesen erhellte. Oder er optimierte Stirling-Motoren, damit diese fähig wurden, mit niedrigen Temperaturen, z.B. einfacher Solarwärme oder sogar Abwärme drehende Bewegung zu erzeugen, um Elektrizität zu produzieren. Und, und, und. Einfach wunderbar – und das vor rund 40 Jahren! Ökonomisch konnte er nie so richtig reüssieren, er ist aber auch mit seinen bald 80 Jahren immer noch dran. Seinen lebenslangen Solarehrgeiz steckte er vor allem in Entwicklungen für die Dritte Welt, wollte er doch erreichen, dass ärmere Menschen mit simplen Lösungen selbstbestimmt, einfach und umweltfreundlich Energie erzeugen und nutzen können. Und wir müssten mehr auf die Natur schauen, denn sie sei die wahre Lehrmeisterin der Solarenergie, wir müssten ihr nur besser zuhören, meinte Jürgen. Bereits in den 1960er Jahren bastelte er an einem Roboter, der Skilaufen sollte.

Vater und Sohn: beide Genies, der Vater tüftelte an Kriegsmaterial, der Sohn an Solarenergie. Technologischer Fortschritt kann immer so oder anders eingesetzt werden. Über diese Differenzen zerstritten sich die beiden. Zum Schluss beteiligte sich aber Jürgens Vater an seiner Solarunternehmung und forschte mit. Ja, über Jürgen gäbe es noch viele Geschichten zu erzählen. Diese sind mir nur in den Sinn gekommen, weil Marianne das Historisch-Technische Museum besucht hat und dort vor allem die V 2 Raketen entwickelt wurden. Manchmal assoziieren Gegebenheiten und Diskussionen Themen, und wunderbare alte Geschichten kommen an die Oberfläche.

Nun fahren wir Richtung Karlshagen und nehmen den gleichen Weg zurück, wie wir angefahren sind: auf dem Achterwasser zurück in den Peenestrom, auf den vorgegebenen Wasserstrassen an Wolgast vorbei und unter der blauen Brücke hindurch nach Karlshagen.  

About the author

Chrigel Hunziker und Marianne Ott